Digitale Arbeitsplatzüberwachung: Wenn Denken teuer wird

2022-09-02 21:51:53 By : Mr. Hong Yuan

Miriam Meckel ist deutsche Publizistin und Unternehmerin. Sie ist Mitgründerin und CEO der ada Learning GmbH. Außerdem lehrt sie als Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen.

Miriam Meckel ist deutsche Publizistin und Unternehmerin. Sie ist Mitgründerin und CEO der ada Learning GmbH. Außerdem lehrt sie als Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen.

Als Jeremy Bentham 1791 die Idee des Panopticon hatte, da zeichnete er ein kreisrundes Gebäude. In dessen äußerem Kreis waren zahlreiche beleuchtete Zimmer, Zellen oder Büros vorgesehen. Im Inneren der Rotunde stand ein Beobachtungsturm, von dem aus ein Wärter alle anderen Menschen im Gebäude perfekt im Blick hat, selbst aber im Dunklen bleibt.

Der britische Philosoph und Nutzenethiker Bentham hatte die perfekte Kontrollarchitektur erschaffen. Allein die Vorstellung davon, dass sie immerfort unter Beobachtung stünden, sollte in den Menschen im Gebäude einen Überwachungsdruck erzeugen, der unerwünschtes Verhalten verhindert.

Man muss dazu wissen, dass Benthams architektonische Überwachungsfantasie eigentlich für die Konstruktion von Fabriken gedacht war. Gebaut wurde sie allerdings zum ersten Mal 1811 für einen anderen Zweck – als Gefängnis. Irgendjemand muss auf dem Weg zur Umsetzung dieses Projekts erkannt haben, dass Arbeit und Haft nicht dasselbe sind.

Es gibt andere, subtilere Formen der Freiheitseinschränkung, die den Verlauf der Evolution von organisierter Arbeit in den vergangenen 200 Jahren geprägt haben. Auch sie haben mit Überwachung zu tun. Dazu gehört beispielsweise das „Scientific Management“ des US-Arbeitswissenschaftlers Frederic Winslow Taylor. Er hatte erkannt, dass es keiner räumlichen Begrenzung bedarf, um Menschen zu kontrollieren und unter Druck zu setzen. Das gelingt auch mit Stoppuhr und Messgerät.

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Taylor zerlegte jeden Arbeitsvorgang in seine kleinsten Bestandteile, ließ auf die Sekunde genau ausmessen, wie lange ein Handgriff oder eine Bewegung dauert, und wies diese fraktalen Miniaturarbeiten dann den Mitarbeitenden an den Fließbändern zu. Was Karl Marx entsetzt als Entfremdung der Arbeit betrachtet hätte, darin sah Taylor den Effizienzgewinn der frühen Industriegesellschaft.

Zum Glück haben Büro- oder Fabrikarbeit heute nichts mit Inhaftierung zu tun, und auch beim Einsatz von Stopp- und Stechuhren haben wir uns zivilisatorisch entwickelt. Technologie kommt zum Einsatz. Und schon muss man etwas genauer hinsehen.

In vielen amerikanischen Unternehmen ist seit der Pandemie Software im Einsatz, die den Namen „Panopticon 4.0“ verdient hätte. Natürlich heißt sie so nicht, sondern „Time Doctor“, „Hubstaff“ oder „WorkSmart“. Ein Gefängnis bleibt aber ein Gefängnis, auch wenn man es als einhundertprozentig gesichertes Wellnesshotel betitelt.

Diese modernen Überwachungstools laufen nahezu unbemerkt auf den Rechnern der Mitarbeitenden. Sie zeichnen Tastaturaktivität, Mausbewegungen und Scrollen am Bildschirm auf und machen alle paar Minuten einen Screenshot oder auch eine Aufnahme der Person vor dem Bildschirm.

Die Motivlage ist klar: Man will die Mitarbeitenden zwingen, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, unnötige Pausen und häufige Ablenkung vermeiden. Man möchte auch gern sichergehen, dass die Kolleg:innen tatsächlich arbeiten und am besten auch noch für das eigene Unternehmen. Umfassende Kontrolle ersetzt Vertrauensarbeitszeit.

In der Theorie stößt das bei manchen Mitarbeitenden sogar auf Zustimmung. Ein solches System könne helfen, sich zu konzentrieren und zu fokussieren, und sei zudem gerecht, weil ja nur tatsächlich geleistete Arbeit bezahlt werde. Und genau da wird es absurd.

Wie die „New York Times“ in einer großen Recherche herausgefunden hat, sind die meisten dieser Softwaresysteme extrem fehleranfällig oder auch einfach dumm. Macht das System beispielsweise alle zehn Minuten ein Foto und genau im Moment des Fotos hat die arbeitende Person sich vom Bildschirm abgewendet, dann wird diese „Arbeitseinheit“ rausgerechnet – und auch nicht bezahlt.

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Sogar leitende Angestellte kämpfen mit dieser neuen Form der Überwachung und stellen fest, dass von ihrem guten Gehalt plötzlich nur zwei Drittel übrig sind, weil die Software alles abzieht, was nicht Tastatur- oder Mausaktivität ist. Sich zwischendurch Notizen auf Papier zu machen, mit Mitarbeitenden für ein Feedbackgespräch spazieren zu gehen, ja, einfach nachzudenken, um ein komplexes Problem zu lösen – all das zählt nicht als Arbeit und wird auch nicht bezahlt. Selber denken kann in einem solchen Arbeitsumfeld richtig teuer werden.

Wer mit Microsoft Teams arbeitet, kennt die kleine grüne Statusanzeige neben dem eigenen Profilbild: Nach wenigen Minuten Inaktivität schaltet sie von Grün auf Gelb. Eine Freundin von mir arbeitet bei einer Beratungsgesellschaft in der Schweiz. Regelmäßig bekam sie Nachfragen, wo sie denn sei, wenn das Licht gelb war.

Sie macht es inzwischen wie viele andere und bekämpft Technologie mit Technologie. Ihre Lösung für die Kontrollhysterie ist der „Mouse Jiggler“. Das ist eine Software, die Bewegungen der Maus simuliert und damit Aktivität am Computer vortäuscht. So kann man dann wenigstens mal aufs Klo gehen, ohne gleich einen Anruf aus der Firma zu bekommen.

Der französische Philosoph Michel Foucault hat das Panopticon in seinem Werk „Verbrechen und Strafen“ (1975) als Metapher für die moderne Disziplinargesellschaft beschrieben: Durch die Perfektion der Macht in Rundumüberwachung wird ihre tatsächliche Ausübung überflüssig. Die Kehrseite der Medaille ist die perfekte Simulation von Arbeit: Durch die softwaregesteuerte Bewegung der Computermaus wird tatsächliche Aktivität überflüssig. Wie Du misst, so bist Du.

In dieser Kolumne schreibt Miriam Meckel 14-täglich über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt und ein besseres Leben möglich machen. Denn was die Raupe Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt Schmetterling. ada-magazin.com

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